Grounded Theory: Der konstruktivistische Teilchenbeschleuniger der qualitativen Forschung

Letztes Update am:
September 17, 2024
|
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Die Grounded Theory (GT), insbesondere in ihrer konstruktivistischen Ausprägung, kann als ein "philosophischer Teilchenbeschleuniger" verstanden werden. Diese Metapher verdeutlicht, wie durch die aktive Interaktion zwischen Forschenden und Daten neues Wissen entsteht, ähnlich wie Kollisionen in einem Teilchenbeschleuniger neue Erkenntnisse hervorbringen. Der Codierprozess in der GT umfasst drei Hauptschritte:

  • Offenes Codieren: Zerlegen der Daten in Fragmente, wobei durch Interpretation neue Bedeutungen entstehen.
  • Axiales Codieren: Erkennen von Verbindungen zwischen Codes und Analyse von Mustern und Wechselwirkungen.
  • Selektives Codieren: Auswahl einer zentralen Kategorie, Integration der Konzepte und Theoriebildung.

In jedem dieser Schritte spielen die Interpretation und aktive Gestaltung durch die Forschenden eine zentrale Rolle. Die konstruktivistische GT betont, dass Wissen nicht einfach entdeckt, sondern ko-kreiert wird. Der Beitrag reflektiert zudem die Grenzen der Metapher des Teilchenbeschleunigers, verbindet sie mit bestehender Literatur und diskutiert praktische Implikationen für die Forschung. Diese Sichtweise lädt Forschende ein, ihre eigene Rolle im Prozess der Wissensschöpfung kritisch zu reflektieren und den kreativen sowie reflexiven Aspekt der qualitativen Forschung zu würdigen.

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In der qualitativen Forschung hat sich die Grounded Theory (GT) als eine der wichtigsten Methoden etabliert, um systematisch aus Daten Theorien zu entwickeln. Der Prozess des Codierens – das Zerlegen, Analysieren und Rekonstruieren von Daten – steht im Zentrum dieser Methode. Doch was passiert, wenn wir diesen Prozess nicht nur als technischen Vorgang betrachten, sondern als einen philosophischen Akt? Die Metapher eines Teilchenbeschleunigers bietet eine kreative und tiefgreifende Möglichkeit, diesen dynamischen Prozess der Wissensproduktion besser zu verstehen, insbesondere im Kontext der konstruktivistischen Grounded Theory.

Grounded Theory als dynamischer Erkenntnisprozess

Die Grounded Theory besteht aus drei zentralen Codierungsschritten: offenes, axiales und selektives Codieren. Jeder dieser Schritte trägt dazu bei, aus scheinbar rohen Daten Muster, Strukturen und letztlich eine Theorie herauszuarbeiten. In der konstruktivistischen Grounded Theory geht es jedoch nicht nur um die „Entdeckung" von Wissen, sondern vielmehr darum, dass Wissen durch die aktive Interaktion zwischen Forschenden und Daten erzeugt wird. Diese Ko-Kreation ist ein dynamischer Prozess, der mit einem philosophischen Teilchenbeschleuniger verglichen werden kann: Durch den „Aufprall" von Daten und Interpretation entstehen neue, tiefere Einsichten, die unser Verständnis der untersuchten Phänomene erweitern und transformieren.

Offenes Codieren: Zerteilung und Ko-Kreation von Konzepten

Im offenen Codieren wird das Datenmaterial in einzelne Bestandteile zerlegt, ähnlich wie Teilchen in einem Beschleuniger in ihre kleinsten Bestandteile aufgespalten werden. Dieser Schritt dient nicht nur der Vereinfachung oder Kategorisierung, sondern ermöglicht es, die verborgenen Nuancen und Bedeutungen innerhalb der Daten zu entdecken. In der konstruktivistischen GT entstehen durch das Zerteilen der Daten neue Bedeutungen, da die Forschenden aktiv an der Interpretation beteiligt sind.

Beispiel: Stelle Dir vor, Du führst eine Studie über die Erfahrungen von Lehrer:innen im digitalen Unterricht durch. Beim offenen Codieren könntest Du die Codes wie „technische Herausforderungen", „studentische Beteiligung", „fehlende persönliche Interaktion" und „neue Unterrichtsmethoden" identifizieren. Diese Codes repräsentieren nicht nur die Aussagen der Befragten, sondern spiegeln auch Deine Interpretation dessen wider, was in den Daten bedeutungsvoll ist.

Durch diesen Prozess werden die Daten nicht nur zerlegt, sondern auch neu kontextualisiert. Die Forschenden bringen ihre eigenen Perspektiven, Erfahrungen und theoretischen Vorannahmen in die Analyse ein, was dazu führt, dass die entstehenden Codes sowohl von den Daten als auch von der subjektiven Wahrnehmung der Forschenden geprägt sind.

Axiales Codieren: Muster und Wechselwirkungen durch Interpretation

Im axialen Codieren geht es darum, Beziehungen zwischen den identifizierten Codes herzustellen und die Daten auf einer höheren Abstraktionsebene zu organisieren. Dieser Schritt ist vergleichbar mit der Beobachtung von Teilchenkollisionen in einem Beschleuniger, bei denen neue Muster und Interaktionen sichtbar werden. Durch die Analyse von Zusammenhängen und Wechselwirkungen zwischen den Codes beginnen wir, ein tieferes Verständnis der zugrunde liegenden Phänomene zu entwickeln.

Beispiel: Die zuvor identifizierten Codes „technische Herausforderungen" und „fehlende persönliche Interaktion" könnten zu dem Konzept „Hindernisse im digitalen Unterricht" zusammengeführt werden. Gleichzeitig könnten „studentische Beteiligung" und „neue Unterrichtsmethoden" das Konzept „Chancen durch Digitalisierung" bilden. Durch die Untersuchung, wie diese Konzepte miteinander interagieren, können wir erkennen, dass technische Schwierigkeiten zwar Hindernisse darstellen, aber auch zur Entwicklung innovativer Lehrmethoden führen können.

Im axialen Codieren spielt die Interpretation eine entscheidende Rolle. Die Forschenden suchen nach Mustern, die nicht sofort ersichtlich sind, und nutzen ihr theoretisches Wissen, um die Daten zu kontextualisieren. Dieser Prozess erfordert ein hohes Maß an Reflexion und kritischem Denken, da die Forschenden ständig zwischen den Daten und ihrer eigenen Interpretation pendeln.

Selektives Codieren: Synthese und die Erschaffung von Wissen

Der abschließende Schritt des Codierens, das selektive Codieren, beinhaltet die Integration aller Konzepte um eine zentrale Kategorie oder Kernvariable herum. Dies ist der Moment der Synthese, in dem aus den zahlreichen Codes und Verbindungen eine kohärente Theorie entsteht. Wie in einem Teilchenbeschleuniger, in dem durch die Beobachtung von Kollisionen neue Erkenntnisse über die fundamentalen Bausteine der Materie gewonnen werden, bringt dieser Prozess tiefere theoretische Einsichten hervor.

Beispiel: Aus den Konzepten „Hindernisse im digitalen Unterricht" und „Chancen durch Digitalisierung" könnte die zentrale Kategorie „Transformation der Lehrpraxis in Zeiten der Digitalisierung" entstehen. Diese zentrale Kategorie verbindet alle identifizierten Aspekte und ermöglicht es uns, eine Theorie darüber zu entwickeln, wie Lehrkräfte ihre Praxis anpassen und transformieren, um den Herausforderungen und Möglichkeiten des digitalen Unterrichts gerecht zu werden.

Im selektiven Codieren manifestiert sich die kreative Kraft der Forschenden. Sie entscheiden, welche Kategorie zentral ist und wie die anderen Konzepte in Beziehung dazu stehen. Dieser Prozess ist nicht nur analytisch, sondern auch kreativ und erfordert ein tiefes Verständnis sowohl der Daten als auch des theoretischen Kontextes.

Die philosophische Dimension: Erkenntnis in der konstruktivistischen GT

Die Metapher des Teilchenbeschleunigers verdeutlicht, dass in der konstruktivistischen Grounded Theory Wissen als Produkt eines dynamischen und interaktiven Prozesses gesehen wird. Forschende und Daten stehen in einem ständigen Wechselspiel, in dem Erkenntnis nicht passiv aufgenommen, sondern aktiv gestaltet wird. Dieses Prinzip steht im Einklang mit konstruktivistischen und pragmatischen philosophischen Ansätzen, die betonen, dass Wissen nicht objektiv entdeckt, sondern subjektiv konstruiert wird.

In der konstruktivistischen Perspektive sind die Forschenden keine neutralen Beobachter*innen, sondern aktive Teilnehmer*innen am Forschungsprozess. Ihre Vorannahmen, Erfahrungen und Interpretationen beeinflussen, wie sie die Daten wahrnehmen und interpretieren. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Ergebnisse willkürlich sind, sondern dass sie das Ergebnis eines reflektierten und systematischen Prozesses sind, der sowohl die Daten als auch die subjektive Perspektive der Forschenden berücksichtigt.

Grenzen der Metapher

Obwohl die Metapher des Teilchenbeschleunigers viele hilfreiche Einsichten bietet, hat sie auch ihre Grenzen. Ein Teilchenbeschleuniger arbeitet in einer kontrollierten Umgebung, in der physikalische Gesetze präzise angewendet werden können. Die soziale Forschung hingegen findet in komplexen, oft unvorhersehbaren menschlichen Kontexten statt. Menschliche Erfahrungen und soziale Phänomene sind nicht immer messbar oder vorhersehbar und können sich nicht immer in lineare Modelle einfügen.

Es ist wichtig, diese Unterschiede zu erkennen, um die Metapher angemessen zu nutzen. Während der Teilchenbeschleuniger die Dynamik und Transformation im Forschungsprozess symbolisiert, sollten wir uns der Komplexität und Einzigartigkeit sozialer Phänomene bewusst bleiben. Die Metapher sollte als Werkzeug zur Veranschaulichung dienen, ohne die Vielschichtigkeit menschlicher Erfahrungen zu reduzieren.

Verbindung zur bestehenden Literatur

In der wissenschaftlichen Literatur werden verschiedene Metaphern verwendet, um den Forschungsprozess zu beschreiben. Beispielsweise vergleichen einige Forschende den Prozess mit dem Zusammenfügen eines Puzzles oder dem Weben eines Teppichs, wobei verschiedene Teile zu einem größeren Ganzen zusammengeführt werden. Diese Metaphern betonen ebenfalls die aktive Rolle der Forschenden und die kreative Natur der qualitativen Forschung.

Einflussreiche Werke wie Charmaz' „Constructing Grounded Theory" betonen die Bedeutung der Reflexivität und der subjektiven Perspektive im Forschungsprozess. Die Vorstellung, dass Forschende und Teilnehmende gemeinsam Wissen konstruieren, steht im Zentrum dieser Ansätze und unterstreicht die Notwendigkeit, sich der eigenen Positionierung im Forschungsprozess bewusst zu sein.

Praktische Implikationen für die Forschung

Die Anwendung der Metapher des Teilchenbeschleunigers hat auch praktische Implikationen für die Gestaltung und Durchführung von Forschungsprojekten. Sie erinnert uns daran, offen für unerwartete Ergebnisse zu sein und den Forschungsprozess als iterativ und dynamisch zu betrachten. Anstatt strikt vorgegebene Hypothesen zu testen, ermutigt die Grounded Theory dazu, sich von den Daten leiten zu lassen und Theorien zu entwickeln, die eng mit den Erfahrungen und Perspektiven der Teilnehmenden verknüpft sind.

Dies erfordert Flexibilität und Bereitschaft, die eigene Forschungspraxis ständig zu hinterfragen und anzupassen. Die Forschenden sollten sich darauf einstellen, dass der Forschungsprozess nicht linear verläuft und dass neue Erkenntnisse zu Veränderungen in der Forschungsrichtung führen können.

Fazit: Grounded Theory als kreativer Erkenntnisprozess

Die Grounded Theory, insbesondere in ihrer konstruktivistischen Form, bietet einen tiefgreifenden Einblick in den kreativen Prozess der Wissensproduktion. Die Metapher des Teilchenbeschleunigers veranschaulicht die dynamische Interaktion zwischen Forschenden und Daten und betont die transformative Natur dieses Prozesses. Wissen wird nicht einfach entdeckt, sondern durch aktive Interpretation und Ko-Kreation erschaffen.

Diese Perspektive erweitert unser Verständnis von qualitativer Forschung und unterstreicht die Bedeutung von Reflexivität, Kreativität und Offenheit im Forschungsprozess. Indem wir uns der philosophischen Dimension unserer Arbeit bewusst werden, können wir tiefere Einsichten gewinnen und Theorien entwickeln, die die Komplexität menschlicher Erfahrungen angemessen widerspiegeln.

Die Grounded Theory erinnert uns daran, dass Forschung mehr ist als das Sammeln und Analysieren von Daten. Sie ist ein kreativer und reflexiver Akt, der uns ermöglicht, neue Perspektiven zu entwickeln und unser Verständnis der Welt zu vertiefen. Wie ein Teilchenbeschleuniger eröffnet sie uns neue Horizonte und lädt uns ein, die grundlegenden Strukturen und Muster der Phänomene, die wir untersuchen, zu erkunden.

Schlussgedanken

In einer Zeit, in der Wissen ständig hinterfragt und neu definiert wird, bietet die konstruktivistische Grounded Theory einen wertvollen Rahmen, um die Komplexität der sozialen Welt zu erfassen. Die Metapher des Teilchenbeschleunigers dient dabei als kraftvolles Bild für den kreativen und dynamischen Charakter des Forschungsprozesses. Sie ermutigt uns, über traditionelle Methoden hinauszugehen und neue Wege der Erkenntnis zu beschreiten.

Indem wir uns auf die Interaktion zwischen Forschenden und Daten konzentrieren und die subjektive Natur von Wissen anerkennen, können wir Theorien entwickeln, die nicht nur wissenschaftlich fundiert, sondern auch relevant und bedeutungsvoll für die Gesellschaft sind. Dies erfordert Mut, Kreativität und ein tiefes Engagement für den Prozess der Wissensproduktion.

Die Grounded Theory als philosophischer Teilchenbeschleuniger erinnert uns daran, dass Forschung nicht nur eine technische Aufgabe ist, sondern ein Akt der Entdeckung und Schöpfung. Sie lädt uns ein, die Grenzen des Bekannten zu überschreiten und neue, tiefere Einsichten in die menschliche Erfahrung zu gewinnen.

Quellen

Glaser, Barney G., und Anselm L. Strauss. "The Discovery of Grounded Theory: Strategies for Qualitative Research." Aldine, 1967.

Strauss, Anselm, und Juliet Corbin. "Basics of Qualitative Research: Grounded Theory Procedures and Techniques." Sage Publications, 1990.

Charmaz, Kathy. "Grounded Theory: Objectivist and Constructivist Methods." In Handbook of Qualitative Research, herausgegeben von Norman K. Denzin und Yvonna S. Lincoln, 2. Auflage, 509-535. Sage Publications, 2000.

Clarke, Adele E. "Situational Analysis: Grounded Theory After the Postmodern Turn." Sage Publications, 2005.

Charmaz, Kathy. "Constructing Grounded Theory: A Practical Guide Through Qualitative Analysis." Sage Publications, 2006.

Bryant, Antony, und Kathy Charmaz, Hrsg. "The SAGE Handbook of Grounded Theory." Sage Publications, 2007.

Corbin, Juliet, und Anselm Strauss. "Basics of Qualitative Research: Techniques and Procedures for Developing Grounded Theory." 4. Auflage. Sage Publications, 2015.

Constantin Melchers
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