Von Reaktion zu Resonanz: Der Weg zu einem neuen strategischen Bewusstsein

Letztes Update am:
February 13, 2025
|
Lesezeit:
6 Minuten

Inhaltsverzeichnis

tl;dr

In einer Zeit sinkender Innovationsbereitschaft müssen Organisationen von reaktiven zu resonanten Systemen werden. Der Weg dahin ist komplex: Nur 34% der deutschen Unternehmen planen mehr Innovationsaktivitäten. Das Essay zeigt, wie die Integration von apollinischer Struktur und dionysischer Transformationskraft gelingen kann - und welche praktischen Hürden zu meistern sind.

Weitere relevante Inhalte zum Thema

Keine Artikel vorhanden.

Es gibt diesen besonderen Moment in Konzerthäusern, kurz bevor das Orchester zu spielen beginnt. Die Musikerinnen und Musiker sitzen bereit, die Instrumente sind gestimmt, und dann erklingt das A des Konzertmeisters. Nach und nach stimmen die anderen Instrumente ein, bis der Raum erfüllt ist von einer einzigen, perfekt harmonischen Schwingung. In diesem Moment wird hörbar, was Resonanz bedeutet: das Zusammenspiel verschiedener Klangkörper, die sich gegenseitig verstärken und eine neue Qualität des Klangs erschaffen.

Doch was wäre, wenn plötzlich ein Smartphone-Alarm diese perfekte Harmonie durchbräche? Die meisten würden dies als störende Unterbrechung wahrnehmen. Aber vielleicht liegt gerade in dieser Störung eine tiefere Wahrheit über das Wesen von Resonanz – und über die Art, wie Organisationen heute strategisch denken müssen.

Die Zahlen zeichnen ein komplexes Bild: Deutschland, einst Innovationsführer, findet sich heute nur noch auf Rang 10 von 35 Volkswirtschaften beim Innovationsindikator. Die Innovationsbereitschaft deutscher Unternehmen befindet sich auf einem historischen Tiefstand, nur noch 34% planen eine Ausweitung ihrer Innovationsaktivitäten – deutlich weniger als die 50% im Jahr 2020. Diese Entwicklung zeigt nicht nur die Herausforderungen, sondern auch die dringende Notwendigkeit eines neuen strategischen Denkens.

Warum? Weil die Geschichte der Innovation voll ist von "störenden" Momenten, die sich im Nachhinein als wegweisend erwiesen. Als Steve Jobs 2007 das erste iPhone vorstellte, empfanden viele etablierte Mobiltelefonhersteller dies als störende Unterbrechung ihrer sorgfältig orchestrierten Strategien. Nokia, damals unangefochtener Marktführer, reagierte – aber es resonierte nicht. Der Unterschied zwischen beidem sollte sich als fatal erweisen.

Die Verfechter klassischer Managementansätze werden hier einwenden, dass effizientes Reaktionsmanagement der Schlüssel zum Überleben sei. Sie verweisen auf ausgefeilte Frühwarnsysteme, auf die Optimierung von Reaktionszeiten, auf die Verfeinerung von Feedback-Loops. Doch die aktuellen Herausforderungen – von Fachkräftemangel bis zu wachsender Bürokratie – zeigen die Grenzen reiner Reaktionsmuster auf.

Hier offenbart sich eine überraschende Parallele zur Quantenphysik: So wie ein Teilchen nicht gleichzeitig präzise in seiner Position und seiner Geschwindigkeit bestimmt werden kann, können Organisationen nicht gleichzeitig perfekt reaktiv und wahrhaft resonant sein. Je mehr sie sich auf schnelle Reaktionen fokussieren, desto mehr verlieren sie die Fähigkeit, tiefere Schwingungsmuster zu erkennen.

Die typischen Planungshorizonte im strategischen Management umfassen heute 2-5 Jahre – ein Zeitfenster, das sowohl Stabilität als auch Beweglichkeit ermöglichen soll. Doch die Realität ist komplexer: Unternehmen müssen heute gleichzeitig kurzfristige Krisen bewältigen und langfristige Transformationen gestalten. Diese Spannung zwischen operativer Stabilität und strategischer Wandlungsfähigkeit ist eine der größten Herausforderungen unserer Zeit.

Resonanz bedeutet mehr als Reaktion. Ein resonanter Körper schwingt nicht einfach mit, er entwickelt seine eigene Klangqualität. Er verstärkt bestimmte Frequenzen und dämpft andere. Er ist nicht passiv, sondern gestaltet aktiv mit. Genau diese Qualität brauchen Organisationen heute: die Fähigkeit, nicht nur auf Veränderungen zu reagieren, sondern sie mitzugestalten, sie zu verstärken oder abzuschwächen, je nachdem, was der Situation angemessen ist.

Die kritischen Stimmen werden hier einwenden, dass dies nach schöner Theorie klingt, aber wenig mit der harten Realität des Geschäftsalltags zu tun hat. Betrachten wir Unternehmen wie Patagonia: Zunächst als Leuchtturm der nachhaltigen Transformation gefeiert, zeigt sich nach dem Weggang des Gründers die Spannung zwischen idealistischen Prinzipien und wirtschaftlichen Zwängen. Neue Kundengruppen priorisieren schnelle Lieferung über Umweltfreundlichkeit – eine Herausforderung für jedes Geschäftsmodell, das Resonanz und Wirtschaftlichkeit vereinen will.

Nietzsche hat uns gelehrt, dass wahre Transformation immer aus der Spannung zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen entsteht. Das Apollinische steht für Ordnung, Struktur und Klarheit – Qualitäten, die zweifellos wichtig sind für strategisches Handeln. Das Dionysische hingegen repräsentiert die Kraft der Veränderung, die Energie der Transformation, den Mut zum Neuen. Eine Organisation, die in echter Resonanz mit ihrer Umwelt steht, muss beide Qualitäten in sich vereinen.

Hier zeigt sich eine weitere überraschende Verbindung: zur Architektur. Die größten Kathedralen der Welt sind nicht deshalb über Jahrhunderte stabil, weil sie starr sind, sondern weil sie schwingen können. Sie absorbieren Erschütterungen nicht durch Widerstand, sondern durch Resonanz. Genau diese Fähigkeit – Stabilität durch Schwingung – brauchen auch Organisationen heute.

Was bedeutet dies konkret? Betrachten wir das Beispiel Tesla: Die Geschichte ist komplexer als oft dargestellt. Das Unternehmen musste seine ursprünglichen Volumenziele deutlich nach unten korrigieren und schwenkt von reinem Wachstum auf neue Schwerpunkte wie autonomes Fahren um. Dennoch zeigt gerade diese Anpassungsfähigkeit, was Resonanz bedeutet: nicht stur an ursprünglichen Plänen festzuhalten, sondern die Fähigkeit zu entwickeln, sowohl mit Marktbedingungen als auch mit der eigenen Vision in produktiver Spannung zu bleiben.

"Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können", schreibt Nietzsche. Für Organisationen bedeutet dies heute mehr denn je: Sie müssen lernen, mit Widersprüchen zu leben. Die Transformation von reiner Reaktion zu echter Resonanz ist kein linearer Prozess. Sie erfordert die Fähigkeit, verschiedene Spannungsfelder produktiv zu nutzen: zwischen Stabilität und Wandel, zwischen wirtschaftlichem Erfolg und gesellschaftlicher Verantwortung, zwischen kurzfristiger Reaktionsfähigkeit und langfristiger Transformation.

Der Weg von der Reaktion zur Resonanz ist komplex und herausfordernd. Er erfordert mehr als neue Methoden oder bessere Werkzeuge. Er erfordert ein neues strategisches Bewusstsein, das die Kraft der Resonanz als Quelle der Transformation begreift – und gleichzeitig die praktischen Hürden dieser Transformation anerkennt. Vielleicht liegt gerade in dieser Spannung zwischen Ideal und Realität, zwischen Vision und Umsetzung, das eigentliche Potenzial der Resonanz: nicht als einfache Lösung, sondern als produktive Kraft der Veränderung.

Quellen

BDI und Roland Berger (2023) 'Innovationsindikator Deutschland 2023', Berlin: Bundesverband der Deutschen Industrie e.V.

DIHK (2023) 'DIHK-Innovationsreport 2023: Innovationsdynamik im Sinkflug', Berlin: Deutscher Industrie- und Handelskammertag

ZEW (2023) 'Mannheimer Innovationspanel - Deutsche Innovationserhebung', Mannheim: Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung

Patagonia (2022) 'Earth is now our only shareholder', Pressemitteilung vom 14. September 2022

Tesla, Inc. (2024) 'Q4 and Full Year 2023 Update', Quartalsbericht vom 24. Januar 2024

Financial Times (2024) 'Patagonia's growing pains test its idealistic business model', Financial Times, 22. Januar 2024.

Business Insider (2024) 'Patagonia stand für Nachhaltigkeit – ist das passé?', Business Insider Deutschland, 30. Januar 2024.

Vision Mobility (2023) 'Tesla Impact Report 2023: Keine 20 Millionen Teslas jährlich bis 2030', Vision Mobility, 14. Juli 2023.

Constantin Melchers
tantin Consulting
Unterstütze Top-Manager:innen in KMU dabei, fundierte strategische Entscheidungen zu treffen und diese erfolgreich umzusetzen.